Sehr viele unserer Leser interessieren sich für ortsunabhängige Geschäftsmodelle und Remote Work. Doch welche Fallstricke drohen dabei? Was bedeutet ortsunabhängig arbeiten wirklich? Wie gelingt die Vernetzung? Und wie können Agenturen ihren MitarbeiterInnen im Homeoffice mehr vertrauen? Acht Fragen an Sebastian Kühn von der Community Citizen Circle.
Ob falsche Vorstellungen vom Traumjob, bürokratische Hindernisse oder mangelnde Selbstdisziplin: Auf sogenannte Digitale Nomaden oder Remote-Teams und -Führungskräfte warten zahlreiche Herausforderungen. Unser Interview zeigt dir, wie sich diese gemeinsam meistern lassen.
Mit Remote Work zu mehr Selbstverantwortung
Sebastian, das Interview Digitaler Nomade werden auf unserem Blog wurde 2019 mit großem Abstand am häufigsten gelesen. Warum üben zeit- und ortsunabhängige Geschäftsmodelle eine so große Faszination aus?
Zuerst sei gesagt, dass das Klischee des Digitalen Nomaden, der in der Hängematte mit 4 Stunden Arbeit sein Geld verdient, natürlich durch die mediale Verbreitung ein Bild bekommen hat, das kritisch hinterfragt werden darf. Digitale Nomaden sind so facettenreich in ihren Persönlichkeiten, Bedürfnissen und Sehnsüchten, wie andere Personengruppen das auch sind. Was uns verbindet, ist eine gemeinsame Wertebasis, die in Selbstbestimmung und Selbstverantwortung begründet ist.
Ich denke, viele Menschen spüren heute eine Sinnleere und eine Sehnsucht nach Abenteuer, die sie im Digitalen Nomadentum gestillt sehen. Mich persönlich fasziniert die Freiheit, von überall aus zu arbeiten – und mir dabei sowohl Arbeitszeit als auch -inhalt relativ frei wählen zu können. Meine Unternehmen sehe ich dabei als Spielplätze, auf denen ich mich als Mensch weiterentwickeln kann. Diese Möglichkeiten hatte ich im Angestelltendasein nicht.
Remote arbeiten: Vor- & Nachteile
Fallstricke für Digitale Nomaden
Entspannt arbeiten unter Palmen, so lautet ein gängiges Klischee, das du ansprichst. Die ortsunabhängige Arbeit ist nicht immer so einfach, wie man es sich vorstellt. Was sind die deiner Meinung nach die drei größten Fallstricke bei dem Konzept? Und wie bewältigt man sie?
Punkt 1: Viele Menschen rennen einer Traumvorstellung hinterher, ohne sich selbst kritisch zu fragen, ob sie die damit einhergehende Unsicherheit aushalten können. Wollen sie die Risiken eingehen und wirklich die komplette Verantwortung für ihr Leben übernehmen? Deshalb steht die Frage “Wer bin ich und was will ich eigentlich?” am Anfang aller Überlegungen. Um nicht nach ein paar Monaten festzustellen, dass ich gegen meine eigenen Werte gehandelt habe.
Punkt 2: Es gibt bürokratische Hindernisse, die es zu überwinden gilt. Soll ich mich abmelden? Wie eröffne ich ein Bankkonto ohne festen Wohnsitz? Wo zahle ich Steuern? In welchem Land soll ich mein Unternehmen anmelden? Wie versichere ich mich? Hier muss ich selbstverantwortlich nach Lösungen suchen und kann mich nicht mehr hinter der Obhut des Staates verstecken.
Punkt 3: Das oft wechselnde Umfeld und die freie Zeiteinteilung sind Fluch und Segen zugleich. Es benötigt Disziplin und Routinen, um produktiv zu arbeiten, wenn ich keine festen Bürozeiten mehr habe. Ich bleibe mindestens einen Monat an dem gleichen Ort, um mir dort eine produktive Arbeitsumgebung zu schaffen. Wenn ich schneller unterwegs bin, dann reise ich und arbeite nur im “Wartungsmodus”. Gleichzeitiges (schnelles) Reisen und Arbeiten ist für mich eine Illusion.
Welche Eigenschaften sollte man persönlich mitbringen, um das Modell dauerhaft leben zu können? Und wer sollte besser die Finger davon lassen?
Die Werte Freiheit und Selbstbestimmung sollten stärker ausgeprägt sein als der Wunsch nach Stabilität und festen Strukturen. Ich muss Unsicherheiten aushalten und mich auf neue Situationen einstellen können. Außerdem muss ich bereit sein, die komplette Verantwortung für mein Leben zu übernehmen, was sowohl Erfolge als auch Misserfolge betrifft. Was generell für Selbständige gilt, verstärkt sich bei häufigen Ortswechseln umso mehr.
Tools für Remote Work
Remote Leadership – also das ortsunabhängige Führen: Wie kann man dabei trotzdem eng an seinen MitarbeiterInnen bleiben? Und Stimmungen im Unternehmen bzw. der Agentur wahrnehmen?
Das ist eine Herausforderung, an der wir in unserem zehnköpfigen Team im Citizen Circle, das koplett remote aufgestellt ist, gerade wachsen dürfen. Neben der Kommunikation über den Slack-Chat, das Projektmanagement über Trello und Google-Tools sowie die wöchentliche Teamcalls halten wir den persönlichen Kontakt für unerlässlich.
Es gibt bei uns einen Tag in der Woche, an dem wir nicht nur einen Teamcall haben, sondern auch virtuelle Coworking-Zeit einplanen. Über Breakout-Rooms bei Zoom sprechen wir uns hier in Kleingruppen auf kurzem Wege ab. Ansonsten planen wir im engsten Kreis ganz bewusst alle paar Monate Vor-Ort-Zeiten ein, in denen wir in Sprints zusammenarbeiten. Das erweiterte Team kommt wenigstens alle 6 Monate zusammen, um zwischenmenschliche Beziehungen zu pflegen. Und um ein Wir-Gefühl zu schaffen.
Tools für das Homeoffice und Remote Work
Müssen Unternehmen im Technologieumfeld auf den Remote-Zug aufspringen, wenn sie in Zukunft noch genügend neue MitarbeiterInnen finden wollen? Wie muss hierfür die Unternehmenskultur aussehen, damit das Remote-Modell nicht scheitert?
Wir erleben gerade in dieser Corona-Zeit, wie Remote-Arbeit selbst für große Konzerne funktionieren kann. Um zukünftig die besten Mitarbeiter zu finden, halte ich Anreize wie flexible Arbeitsorte und -zeiten, die Möglichkeit zur persönlichen Weiterentwicklung im Unternehmen und Mitbestimmung für extrem wichtig.
Das Vertrauen gegenüber den Mitarbeitern sollte fest in der Unternehmenskultur verankert sein (das geht in beide Richtungen). Wir versuchen unser Team in möglichst viele Entscheidungen einzubeziehen und ihnen zunehmend mehr Verantwortung zu übergeben. Gleichzeitig testen immer wieder mal neue Arbeitsmodelle wie derzeit die 3-Tage-Woche.
Führungskräfte: Kontrolle abgeben
Viele Firmen oder Agenturen fürchten einen Kontrollverlust, wenn sie ihr Team von zu Hause aus arbeiten lassen. Wie lässt sich dieses Dilemma lösen?
Hier muss jede Führungskraft an der eigenen Einstellung arbeiten. Der Wunsch nach Kontrolle entspringt meist dem eigenen Ego – ich möchte mich wichtig und gebraucht fühlen, deshalb kontrolliere ich jeden Schritt meiner Mitarbeiter. So können diese jedoch nie lernen, in Eigenverantwortung zu arbeiten.
Das bessere Ziel für mich als Unternehmer oder Führungskraft ist es, mich überflüssig zu machen. Wenn ich nur noch wenig gebraucht werde, dann habe ich einen guten Job gemacht (auch wenn mein Ego das anders sieht). Dann kann ich am Unternehmen arbeiten, anstatt mich in kleinteiliger Alltagsarbeit zu verlieren.
Der Citizen Circle ist eine Community für digitale, zeit- und ortsunabhängige Businessmodelle. Wie bist du selbst zu dem Thema gekommen?
Seit 2012 bin ich als digitaler Nomade in der Welt unterwegs. Gerade anfangs hat mir oft der Austausch mit Gleichgesinnten gefehlt, weshalb ich schon früh damit begann, andere digitale Selbständige um mich herum zu versammeln. Anfang 2017 bin ich dann in das Gründerteam des Citizen Circle, der 2015 von Tim Chimoy, Kris Braun und Dennis Hessenbruch gegründet wurde, mit eingestiegen.
Ein afrikanisches Sprichwort sagt „Wenn du schnell gehen willst, dann gehe alleine. Wenn du weit gehen willst, dann mußt du mit anderen zusammen gehen.” Mit dieser Haltung wachsen wir gemeinsam mit unseren derzeit 500 Mitgliedern.
Community für Remote Work
Wer kann beim Citizen Circle mitmachen? Und wie unterstützt ihr eure Mitglieder?
Bei uns sind alle Freidenker und Andersmachenden auf der Suche nach einem Zuhause willkommen. Der Schwerpunkt liegt in unserer Community auf der digitalen Selbständigkeit, wobei auch andere Lebensthemen wie Gesundheit, Beziehungen und Geld immer wieder thematisiert werden. Wir nutzen das ortsunabhängige Business, um uns wieder mehr Freiheiten in unser Leben zurückzuholen, wobei das keineswegs das Endziel ist.
Wir bieten eine umfangreiche Online-Plattform mit Videokursen, Foren, Mastermind-Gruppen, einem sehr aktiven Slack-Chat und regelmäßigen Online-Workshops. Unsere Mitglieder vernetzen sich dort, um gemeinsam Unternehmen zu gründen, Aufträge untereinander zu vergeben, Feedback für Ideen zu bekommen oder um sich beim Marketing ihrer Angebote zu unterstützen.
Um die Verbindung zwischen Online- und Offline-Welt zu schaffen veranstalten wir zwei mal im Jahr Konferenzen im Ausland sowie zwei größere Treffen innerhalb von Deutschland. Dazu treffen sich unsere Mitglieder bei monatlichen Lokaltreffen in 15 Städten in der DACH-Region. Ebenso auf regelmäßig stattfindenden „Workations“ (Mix aus Work+Vacation). Siehe die Übersicht unserer Events.